Liebe Eltern,
gestern gelang es mir, alle Arbeit zu Hause in Ruhe zu tun, und trotz vieler Hausarbeit blieb in der Ruhe Zeit, ein wenig adventliche Vorbereitungen zu treffen. Obwohl ich nichts Außergewöhnliches erlebte, sondern nur „Alltägliches“ erledigte (Dinge aufräumen, Essen kochen, die Küche machen, die Post durchschauen, kurze Gespräche mit Freunden am Telefon und mit Nachbarn an der Tür etc. etc.), hatte ich ein herrliches Lebensgefühl und einen äußerst zufriedenstellenden Tag und als ich mich fragte warum, war meine Antwort klar: Es lag an der Muße, der Ruhe, die mir gelang, in Ruhe alles zu erledigen, allen Stress zu lassen, zu vermeiden.
Die nachbarschaftlichen Begegnungen schließen jetzt immer wieder auch Gespräche mit geflüchteten Menschen ein, die in unserem Dorf angekommen sind und jetzt den mitteleuropäischen Alltag miterleben. Wie oft fragen sie uns, ob wir nicht zum Tee kommen, ob wir Zeit haben für einen kleinen Plausch, für ein Essen, für einen Abend Gespräch. Wie oft lehne ich bedauernd ab, weil ich da oder dort hin muss, dies oder jenes zu erledigen habe, weil die vielen beruflichen oder sonstigen Verpflichtungen mich rufen. Einer der syrischen Familienmenschen (er spricht nach zwei Jahren Lernen schon ausgezeichnetes Deutsch) fragt mich immer wieder: „Wie lebt ihr? Ihr habt so wenig Zeit füreinander, das ist schade! Mir fehlen bei euch die Gespräche mit Nachbarn sehr.“ Und immer wieder antworte ich „Ja, Du hast recht. Das ist der große Nachteil unserer boomenden Wirtschaft – wir haben keine Zeit mehr füreinander.“
Je mehr Muße tagsüber, desto mehr Ruhe nachts
Parallel fällt mir immer der Satz ein, den unser Vater zitierte, wenn er aus seinem genussvollen Frankreich-Urlaub zurück kam: „Die Deutschen leben, um zu arbeiten; die Franzosen arbeiten, um zu leben.“ Die Europäische Union (Deutschland vorne dran) arbeitet darauf hin, dass in allen Ländern die Siesta abgeschafft wird; man könnte sagen, sie tut es nach dem Motto: „Wo kommen wir denn hin, wenn so viel Ruhe über Mittag zelebriert wird? Da muss man sich wohl nicht wundern, dass man in den betroffenen Ländern zu nichts kommt …?“. Die Schlaf-Forschung sagt etwas ganz anderes, nämlich: Der tiefe, erholsame Nachtschlaf (und infolge die Konzentration am Tag bei aller Arbeit) wird durch Ruhepausen und Schläfchen am Tag gestärkt. Unser Körper muss oft genug am Tag zur Ruhe kommen, um nachts erholsam und tief ruhen zu können. Sie alle können das in Ferienzeiten spüren: Oft ist man schon nach dem Frühstück wieder müde, und je mehr man es zulässt, am Tag tatsächlich solchem Schlafbedürfnis nachzugeben, umso tiefer schläft man in der Nacht. Schlafstörungen kann man unter anderem dadurch heilen, indem man tagsüber mehr Ruhe, mehr Pausen, mehr Schläfchen zelebriert. In Deutschland sind Schlafstörungen ein häufig verbreitetes Problem und wir könnten es ändern, indem wir mehr Muße zuließen.
In der Beratung von Eltern mit kleinen Kindern sind die Probleme rund um das Thema Schlafen die häufigsten Anliegen. Fast alle Kinder, die mitkommen, spielen kaum ruhig, sondern sind leicht nervös, eher zappelnd, sind, die Eltern ständig fordernd, in meinem kleinen Arbeitszimmer unruhig auf Achse. Das erste, was ich Eltern dazu sage und was ich ihnen zeige ist, wie sie ihrem Kind helfen, dass es mehr Tagträumen, mehr Trance, mehr verspielte Ruhe zulassen kann. Und sehr zahlreich melden Eltern mir zurück, dass ihr Kind dadurch endlich ins ruhige Spielen hinein fand, dass endlich das Nervös-Sein nachließ, die unruhige, kindliche Zappelei deutlich weniger wurde. Und: Dass das Kind selbst mehr Müdigkeitszeichen zeigte und Eltern samt Kind dadurch plötzlich die Müdigkeit und damit das Bedürfnis nach Ruhe wahrnahmen und dem zeitnah, häufig genug am Tag nachgaben. Für uns Menschen gilt: Das Tagträumen, die ruhige Trance zuzulassen ist die Voraussetzung, um sich schließlich überhaupt in den Schlaf fallen lassen zu können.
Kindern Gelassenheit vorleben
Was Sie alles in kleinen Schritten dafür tun können – das beschreibe ich Ihnen beim nächsten Mal, nach und nach. Jetzt mache ich erstmal Pause bei einer Tasse Tee und wünsche Ihnen, dass Sie die kommenden Wochen häufiger so einrichten können, dass Ihnen oft genug mehr adventliche Ruhe gelingt und Sie diese Zeit genießen, vielleicht mit reichlich Kerzenschimmer und schönen kleinen Geschichten zum Erzählen oder Vorlesen? Wenn wir genauer hinsehen, dann hängt Genuss letztlich weniger an großen Geschenken füreinander, aber sehr an der Ruhe und Zeit, die wir zusammen finden. Wir alle wissen, dies ist in unserer unruhigen Zeit leichter gesagt als getan; aber vielleicht lassen Sie doch das eine oder andere Losgehen und „Erledigen draußen“ ausfallen und gönnen sich einfach weniger Sachen aber mehr Ruhe und Genuss zu Hause, miteinander ?
Ich wünsche uns das allen sehr und grüße Sie herzlich
bis zum nächsten Mal
Ingrid Löbner