Zunächst noch einmal ein paar Worte dazu, warum kleine (und auch größere) Kinder nicht sofort und immer alles genau so machen, wie wir Eltern es gerne hätten:
Sie erinnern sich, dass Sie damals als Kind auch nicht immer gehorchten? Dass Sie ungehorsam waren? Dass Sie Unfug machten? Dass Sie eigensinnig Ihre und nicht die Wege Ihrer Eltern gingen?
Jeder von uns hatte als Kind (und als Jugendliche, junge Erwachsene) seinen eigenen Kopf und machte, was ihr/ihm in den Sinn kam, ignorierte Vorgaben und Gebote der Eltern. Wenn Erwachsene davon erzählen, spüren sie oft die damalige Freude am Unfug und bekommen leuchtende Augen …
Der ‚eigenen Kopf‘, wichtig für das Selbstbewusstsein
Ungehorsam ist und bleibt ein wesentliches Prinzip unsres Abnabelns von unseren Eltern. Die deutsche Sprache beschreibt es: Kinder, die keinen eigenen Willen entwickeln werden „Schoßkinder“ genannt, oder auch „Mama-Kindchen“ oder auch „Kind, das immer weiter am Rockzipfel hängt“ – alles Bezeichnungen, mit denen man selbst nicht gerne beschrieben werden will, weil sie ausdrücken, dass man keine eigene Persönlichkeit entwickelt hat.
Ab einem Alter von etwa 1,5 Jahren (exakter: ab dem Tag, an dem Kinder -auch durch kleine Anlässe – unglaubliche Wutanfälle bekommen können) nimmt ein Mensch bewusster wahr, dass er einen eigenen Kopf und damit seinen eigenen Willen hat und dass dieser sich deutlich vom Willen der Hauptbindungsperson(en) unterscheidet. Man nennt es auch „Die zweite Geburt“ – das „Ich“ wird geboren. „Selber!“ ist ein Wort, das das Kind dann oft sagt, „Nein!“ und „Selber will!“ sind für viele elterlichen Ohren die ersten Worte ihres Kindes.
Deutlich macht ein Kind bemerkbar, dass es eine ganze Person ist.
Wenn man etwas gerade erst entdeckt, dann sorgt man dafür, dass man diese Entdeckung erlebt, dass man sie begeistert ausleben kann – und dafür sorgt ein Kind mit seinem vehementen Protest. Jetzt ist der Wille da und die eigenen Hände und Füße werden geschickt – entsprechend will ein Kind das spüren. „Auf eigenen Füßen stehen“ – so beschreibt es die deutsche Sprache genau, was geschieht: Mit Aufstehen und Laufen eines kleinen Kindes kommt der eigene Kopf ins Spiel.
Warum so deutlich, mit Wut, so vehement? Dazu fällt mir immer ein Bild aus der Pflanzenwelt ein: Kinder stehen neben uns Erwachsenen wie ein kleiner Baum neben einem großen Baum. Auf mich wirken Protest, Wut, Geschrei eines Kindes als riefe der kleine Baum: “Hey, lass mir Platz, damit ich Luft und Licht bekomme, um neben Dir wachsen zu können. Ohne Luft und Licht, nur in Deinem Schatten kann ich nicht groß werden!“ Ein Kind verschafft sich Raum, auch durch Geschrei, um mehr, bessere Bedingungen für eigene Erfahrungen zu bekommen, um selbst ein standfester, großer Baum zu werden.
Selbstwirksamkeit und die eigenen Bedürfnisse kennenlernen
Wenn man es mit diesem Hintergrund sieht, dass jetzt ein kleiner Mensch sich selbst und sein Können erfahren will, dann kommt man als Eltern auf neue Ideen, denn dann – so anstrengend es auch immer wieder ist – entdeckt man, dass es weniger nur um Gehorsam und Konsequenz geht, sondern mehr um Kompromisse, um diplomatisches Miteinander und Nebeneinander. Damit ist die zentrale Antwort auf obige Frage klar: Sie müssen niemals immer nur konsequent sein, sondern Sie dürfen gut in Beziehung sein und im Klären von Kompromissen, so dass neben Ihnen eine kleine Persönlichkeit den eigenen Stand erleben kann.
Wann und was entscheiden Eltern, und was kann ein Kind entscheiden?
Alles, was Leib und Leben eines Kindes gefährdet, darüber entscheiden die Eltern, weil sie mehr Weitblick haben.
Beispiele:
– Wärme: Über die Wärme der Kleidung entscheiden die Eltern, denn ein Kind kann nicht einschätzen, ob es sich heute erkältet und krank wird; also MUSS es warme Schuhe und warme Jacke anziehen – bei der Frage, welche warme Jacke und welche warme Schuhe kann ein Kind etwas Auswahl haben, damit es etwas Mitbestimmung hat.
– Am Leben bleiben: Wo und wann man an der Hand gehen muss (stark befahrene Straßen, zu hohe Mauern zum Klettern) entscheiden die Eltern, so lange ein Kind noch nicht übersehen kann, dass es sonst sein Leben riskiert.
– Essen: Dass man ab und zu und am besten in familiärer Gemeinschaft etwas essen sollte – das ist ebenfalls lebensnotwendig (denn wenn jeder irgendwann irgendwas isst, tut es dem Bauch nicht gut und dem Immer-Weiter-Beschäftigt-Sein der Eltern auch nicht). Einigermaßen regelmäßig gemeinsam zu essen, das hilft dem Körper und unserem Zusammenleben, dass wir körperlich und seelisch alle gesund bleiben. Gemeinsame Mahlzeiten, an denen es für alle eine Mahlzeit zu essen gibt, auf die alle Appetit haben, es also ein Gericht gibt (mit kleinen Abwandlungen – wenn jemand keine Rote Bete mag, darf er/sie die heute weglassen), so dass der (die) der (die) das Essen zubereitet, nicht zu viel Arbeit für zu individuelles Essen hätte; auch das entscheiden die Eltern, weil nur sie übersehen, was es an Aufwand bedeuten würde, für jeden Extras zu kochen, ebenso, weil sie besser als ein Kind wissen, was es für den kindlichen Körper bedeutet, wenn er je ausschließlich ungesundes Essen bekäme (zu viele Süßigkeiten, zu viel Chips oder Cola etc.).
– Schlafen: Dass man immer wieder (einigermaßen regelmäßig) schlafen muss, das entscheiden im Wesentlichen auch die Eltern. So lange Schlafen mit Gemütlichkeit und Geborgenheit verbunden wird, sollten Eltern entscheiden, sobald ihr Kind Müdigkeitszeichen zeigt, dass es jetzt zur Ruhe und ins Dösen kommt, also nicht weiter mit seiner Neugierde aufdreht, sondern ins Tagträumen findet und damit eine Chance hat, in den Schlaf zu fallen. Klare Situationen des Zur-Ruhe-Kommens also, ja– darüber entscheiden die Eltern. Dass ein Kind, um sich in den Schlaf fallen lassen zu können, tiefe Gefühle der Geborgenheit braucht, das darf Ihr Kind zeigen und wo es schlafen kann, das darf es entsprechend mitentscheiden. (mehr hierzu siehe die Fragen zum Schlafen weiter oben). Denn: der Stress des Alleinseins ist für viele Kinder ein Schlaf-Killer.
Friedliche Kompromisse und kleine Lösungen
Bei allen anderen Dingen und Angelegenheiten des Alltags suchen Sie reichlich Kompromisse, so dass die kleine Persönlichkeit neben Ihnen wachsen kann im Gefühl, dass sie „Luft und Licht“ bekommt. Keiner, große Menschen die Kleinen nicht, kleine Menschen die Großen nicht, sollte den anderen beschämen, demütigen oder zum Lakaien machen. Am besten gelingt Zusammenleben, wenn man sich gegenseitig in seiner Würde respektiert. Wenn kleine Menschen sich in ihrer Würde respektiert fühlen (aus Kindersicht: „Ich darf hier in meiner Familie die Person sein, die ich in mir fühle“), dann sind sie zu vielen kooperativen Kompromissen bereit. Ich beobachte es im Zusammensein mit Kindern täglich und mit größter Begeisterung. Kinder haben wie die Eltern ein starkes Interesse, dass Zusammenleben gelingt.
Wenn Sie für das Nicht-Einhalten von wichtigen Abmachungen den Kindern Konsequenzen in Aussicht stellen müssen, dann bleiben Sie in Ihren Konsequenzen maßvoll, logisch und gnädig. Kinder haben einen stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Kleine logische Konsequenzen leuchten ein, werden auch akzeptiert. Maßloses Ausleben unserer elterlichen Macht empfinden Kinder als entwürdigend – und entsprechend verdirbt das Androhen maßloser, auch unlogischer Strafen und Konsequenzen das Zusammenleben in der Familie. Beispiel? Strafen Sie nicht damit, dass Sie heute nicht mehr Gute-Nacht sagen, oder dass ein Kind die ganze Woche überhaupt gar nichts in den Medien anschauen darf, weil abends Ihr Kind nicht schnell genug alles gemacht hat, was Sie ansagten.
Besser: Melden Sie frühzeitig, also für das Kind etwas langfristig und einschätzbar an, wenn Ihr Kind zu extrem mit allen abendlichen Vorbereitungen trödelt, dass infolge das gemeinsame Gute-Nacht-Ritual heute nur kurz ausfallen kann. Bleiben Sie bei dieser Ankündigung, seien Sie klar, sagen Sie warmherzig, was logisch ist, aber ebenso warmherzig immer Ihrem Kind Gute Nacht.
Bei allen Auseinandersetzungen schadet nicht, gute Kompromisse zu finden – das schult unser aller Problemlösung und lässt Kinder tagaus tagein erleben, dass es schöner ist im Zusammenleben, wenn es nicht um Unterwerfung geht, sondern um Respekt, aller gegenüber allen; der Jüngeren gegenüber den Älteren, der Älteren gegenüber den Jüngeren.
Übrigens, damit Sie selbst trotz aller Anstrengung im Alltag wieder leuchtende Augen bekommen: Nicht nur bei A. Lindgrens eigensinnigstem Geschöpf „Pippi Langstrumpf“, auch in „Wir Kinder aus Bullerbü“ finden wir Erwachsene unendlich viele Episoden, in denen Kinder erproben, ob alles so ist und sein muss, wie wir Erwachsenen behaupten. Im Bilderbuch „Lotta zieht um“ finden Sie den für jüngere Kinder so unglaublich typischen Eigensinn und Erwachsene, die auch ärgerlich sind, aber kluge Kompromisse finden.
Bei „Ronja Räubertochter“ erleben Sie das Abnabeln größerer Kinder mit – tja, da ist es wieder : wir brauchen mehr Räubertöchter und -söhne … das schrieb ich hier doch schon ?
Noch weitere, konkrete Anregungen zu Ihrem Alltag heute und jetzt, zu täglichen Kompromissfindungen mit jüngeren Kindern finden Sie in meinen Büchern. Ganz regelmäßig taucht diese so häufige Eltern-Frage auch hier wieder auf.
Bis zum nächsten Mal,
herzlich
Ingrid Löbner